Haftung trotz Vorfahrt beim Unfall
Eine aktuellere Entscheidung des 9. Zivilsenates des Oberlandesgerichts Hamm rüttelt wieder an dem juristischen Empfinden des Bürgers.
Ein von der Autobahn auf eine Landstraße abfahrender PKW missachtete die Vorfahrt eines von hinten nahenden Motorrads. Dieses fuhr auf der vorfahrtberechtigten Landstraße. Trotz einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h kollidierte der Motorradfahrer mit einer Geschwindigkeit von über 120 km/h. Die unmittelbar vor dem Unfall eingeleitete Bremsung und der Versuch eines Ausweichmanövers waren nur wenig hilfreich. Der Motorradfahrer erlitt schwerste Verletzungen.
Und doch setzten die mit dem Fall beschäftigten Gerichte die Haftung zu Lasten des Motorradfahrers in einer Höhe von 70% zu 30% fest, obwohl der PKW diesem offensichtlich die Vorfahrt nahm.
Haftungsverteilung beim Unfall
Wie kommt eine derartige Haftungsverteilung zustande?
Die Haftungsquote ist grundsätzlich in jedem Einzelfall konkret zu betrachten. Dabei spielen alle räumlichen und zeitlichen Gegebenheiten ein Rolle. Es gibt gewisse juristische Ansatzpunkte die sich über Jahrzehnte etabliert haben, um die Bestimmung einer Haftungsquote zu erleichtern. Dabei sind der Beweis des ersten Anscheins und die Betriebsgefahr im Verkehrsrecht maßgeblich. Soweit für keinen der Beteiligten am Verkehrsunfall das Ereignis absolut unabwendbar war, wird die Haftung anteilig unter allen verteilt.
Verkehrsunfall als unabwendbares Ereignis?
Ein Unabwendbares Ereignis ist jedoch in der Praxis nur schwer greifbar. Ein Beispiel aus der Rechtsprechung ist ein plötzliche Vereisung der Fahrbahn, obwohl die Witterungsbedingungen dazu keinen sichtbaren Anlass gaben. Kommt dadurch ein Unfall im Verkehr zustande, kann die Haftung dessen ausgeschlossen sein, der die Kontrolle über seinen Wagen durch das Überfahren des Eises verlor.
Im vorliegenden Fall war das Ereignis für beide Fahrer in jedem Fall abwendbar. Eine an das Limit angepasste Geschwindigkeit des Motorrads, sowie eine aufmerksamere Einfahrt auf die bevorrechtigte Straße auf Seiten des Kraftfahrzeugführers.
Beweismittel
Ferner werden sämtliche Beweismittel, sprich Zeugen, Aufnahmen der Polizei am Unfallort u.a. bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt. Auch der sogenannte Beweis des ersten Anscheins trägt einen relevanten Teil bei. Dieser ist kein Beweis im klassischen Sinne, sondern vielmehr eine Art Erfahrungssatz. Dieser wird in Situationen, auch im allgemeinen Zivilrecht, herangezogen, sobald eine der allgemeinen Lebenserfahrung nach typische Situation gegeben ist.
Der allseits bekannte Klassiker ist der Auffahrunfall. Fährt im Straßenverkehr ein Wagen dem anderen hinten drauf, so ist in typischen Situationen nach allgemeiner Lebenserfahrung davon auszugehen, dass der hintere Fahrer den notwendigen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat. Dieser Anscheinsbeweis kann selbstverständlich widerlegt werden, wenn beispielsweise Zeugen berichten, dass der vorn Fahrende plötzlich und ohne jeden Grund eine Vollbremsung einleitete und dieses zum Unfall führte. Der Anscheinsbeweis für die überwiegende Schuld des hinten Auffahrenden wäre somit erschüttert. Im Ergebnis wird die Haftung entsprechend einer ausgewogeneren Quote auf beide Beteiligten verteilt und nicht mehr überwiegend auf den hinten Auffahrenden.
Im vorliegenden Fall fuhr der PKW Fahrer in eine Vorfahrtberechtigte aus einer untergeordneten Straße ein, welches zur Kollision führte. In solchen Verkehrssituationen wäre entsprechend dem Beweis des ersten Anscheins die überwiegende Haftung zu Lasten des einfahrenden PKW zu verteilen. Der Anscheinsbeweis ist jedoch erschüttert worden, durch den Nachweis der extrem überhöhten Geschwindigkeit des Motorrads und der damit einhergehenden atypischen Situation. Die deutlich überhöhte Geschwindigkeit des Motorrads ist eindeutig kausal für den Unfall gewesen.
Betriebsgefahr
In dem zitierten Urteil wurde auch die Betriebsgefahr der jeweiligen Verkehrsteilnehmer berücksichtigt. Diese ist regelmäßig dann gegeben, sobald ein Fahrzeug am Straßenverkehr teilnimmt. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass jedes Fahrzeug im Verkehr eine abstrakte oder potentielle Gefahr für die umliegenden Rechtsgüter darstellt. Dabei ist die Betriebsgefahr für die prozentuale Haftungsquote ein ausschlaggebender Faktor. Das führt nicht selten dazu, dass auch jemand der sich an die Verkehrsregeln hält und trotzdem in einen Unfall verwickelt wird, mit bis zu 20% aufgrund der Betriebsgefahr haften könnte. Dieses gilt auch für Auffahrunfälle.
In diesem Fall nahm das Gericht eine Mithaftung des einfahrenden PKW in Höhe von 30% an. Das basierte auf der Erwägung, dass der PKW Fahrer das Motorrad hätte sehen müssen als er auf die vorfahrtberechtigte Straße fuhr. Dieser Mangel an Aufmerksamkeit war ebenfalls ursächlich für die Kollision. In Höhe der restlichen 70% sollte der Fahrer des Motorrads haften, da er in einer besonders sorgfaltswidrigen Weise die Geschwindigkeit überschritt.
Im Ergebnis bedeutet dies Folgendes:
Der gesamte Schadensersatz und das ganze Schmerzensgeld, sowie Folgeschäden kann der Motorradfahrer lediglich zu 30% von der Gegenseite ersetzt verlangen. Dementgegen kann der PKW Fahrer 70% aller ihm entstandenen Schäden von der Gegenseite verlangen.
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Dieser Artikel basiert auf dem nachfolgenden Urteil:
OLG Hamm, 9. Zivilsenat, Urteil vom 23.02.2016 - Az.: 9 U 43 / 15
WEITERFÜHREND ZUM THEMA VERKEHRSUNFALL:
Link zum Urteil - Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 23.02.2016 - Az.:9 U 43/15